Was lehren wir?

Baumechanik – eine angewandte Naturwissenschaft

Deutsches Ingenieurblatt 03/2018
Gesamtausgabe
Meinung
Baumechanik – eine angewandte Naturwissenschaft

Es sei Prof. Werner Lorenz gedankt, dass er mit einem Artikel in der Dezemberausgabe des Deutschen Ingenieurblatts im vergangenen Jahr die Aufmerksamkeit auf die Geschichte der Bautechnik gelenkt hat. In den Bauingenieurstudiengängen werden nur Lehrinhalte vermittelt, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt wurden. Was vorher geschehen ist, wird selten erwähnt. Welchen Einfluss die Statik auf die Entwicklung der Bauarten hatte, wird nicht erörtert. Im Folgenden soll auf einige Aspekte hingewiesen werden.

Seit Pythagoras (570 – 510 v. u. Z.) waren die Philosophen überzeugt, dass der Schöpfer die Welt nach mathematischen Gesetzmäßigkeiten kreiert hat. Diese Auffassung wuchs mit der Entwicklung der Mathematik. Im 17. Jahrhundert entstand der Begriff „Wissenschaft“, der Mathematik und Naturwissenschaft bedeutet. In der Zeit des Rationalismus wurde die Mathematik zur „Königin“ der Wissenschaften. Die Aufgabe der Wissenschaften ist, die Natur mathematisch zu erfassen, die Mathematik in der Natur zu erkennen. Dies ist erreichbar durch Versuche mit einer Separierung der Parameter. Galileo Galilei (1564–1624) separierte die Gravitation vom Luftwiderstand. Wo mehrere Parameter auftreten, ist die Separierung schwieriger, besonders wenn auch unbekannte Parameter mitwirken. In solchen Fällen bedient man sich der Statistik, wie z.B. in der Medizin (Rauchen ist schädlich).

In der Mitte des 13. Jahrhunderts verkündete Roger Bacon (1214 – 1292) den Weg der Naturwissenschaften: Erkenntnis/Erfahrung– Experiment (Separierung der Parameter)– Theorie/Mathematik. Rund 550 Jahre später veröffentlichte Claude Louis Marie Henri Navier (1785 – 1836) (Bild 2) seine Vorlesungen über Mechanik, die er an der École Nationale des Ponts et Chaussées gehalten hatte. Das Gleichgewicht der Kräfte konnte man schon ermitteln, nun – durch die Separierung der Querschnitts-Geometrie von der Festigkeitseigenschaft des Baustoffs (E-Modul) – war es möglich, die Spannungen infolge von Belastung im Bauteil zu berechnen. E wurde nach Robert Hooke (1635– 1703) als konstant angenommen.

Das war die Geburt der Mechanik, eines Teilgebiets der Mathematik, die als „Baumechanik“ im Bauwesen Anwendung fand. Die Freude war groß, da es nun möglich wurde, die Grenzen des direkten Erfahrungsbereichs zu überschreiten. Man konnte die Beanspruchung von stabartigen Bauteilen aus homogen-isotropen Materialien ermitteln. Das bedeutet, dass die Methode für den Grundbau und auch für den Mauerwerksbau nicht besonders hilfreich war; hierfür wurden später andere Verfahren ersonnen. Die diversen Eigenschaften der Baustoffe und deren konstruktive Eigenarten wurden auch nicht berücksichtigt. Die Zielsetzung war weniger die Quantifizierung des Tragverhaltens der bewehrten Konstruktionen, sondern vielmehr, auf der Basis der mathematischen Theorie Tragsysteme zu entwickeln.
Das heißt: Die Tragwerke wurden so konstruiert, dass man sie rechnen konnte. Dennoch ermöglichte die neue „Wissenschaft“, Bauwerke von vorher nicht geahnter Kühnheit zu errichten.

Die Baustatik hatte wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Bauarten. Die Holzbrücken von Palladio waren nicht mehr akzeptabel, weil die Stabachsen sich nicht in einem Punkt trafen (siehe Bild 1). Holzstäbe schließt man lateral an, zu axialen Anschlüssen braucht man zusätzliche Metallteile. Die Exzentrizität der Lateralanschlüsse erschwert aber den rechnerischen Nachweis. Bei Johann Wilhelm Schwedler (1823 – 1894) waren die Gitterträger verpönt, da sie statisch überbestimmt und daher eigentlich nicht „rechenbar“ waren.
Bei Stahlstabwerken hat man die Stabenden an Knotenbleche genietet und so die Stabkräfte axial in den Knotenpunkt geleitet. Glücklicherweise gab es noch keine Finite-Elemente-Methode, dann hätte man die Knotenbleche auch nach der Elastizitätstheorie gerechnet. Obwohl wir seit über einem halben Jahrhundert zuverlässig schweißen können, womit sich die Stäbe direkt anschließen lassen, werden immer noch Knotenbleche geplant und damit die Länge der Schweißnähte verdoppelt. Es ist bedauerlich, dass die Statiker/Tragwerksplaner bei der Wahl der Profile aufhören und die Ausbildung der Anschlüsse den Stahlbaufirmen überlassen.
Erstaunlich ist allerdings, wie der Architekt Otto Wagner die Stahl-Fachwerkträger der Wiener Stadtbahn gestaltet hat (siehe Bild 3): Er wählte die Profile so, dass sie ohne Knotenbleche mit Nieten angeschlossen werden konnten.

Experimente zur Bestätigung des theoretischen Ansatzes
Beim Stahlbeton wurde die Mahnung von Roger Bacon nicht befolgt: Statt nach Erkenntnis und Experiment die Theorie aufzubauen, fing man gleich mit der Theorie auf Basis der Baumechanik an, diesem Teilgebiet der Mathematik. Statt die Armierungsstäbe dort einzulegen, wo der Beton die Zugbeanspruchung nicht aufnehmen kann, wurden und werden der Fachwerkträgeranalogie entsprechend Bewehrungskörbe einbetoniert. Experimente wurden nicht zum Suchen des Optimums, sondern zur Bestätigung des theoretischen Ansatzes durchgeführt. Die so gewonnenen Erkenntnisse wurden und werden uns aufoktroyiert. Die überflüssigen Kosten, die größere Korrosionsgefahr durch die Bügel und die CO2-Emission stört uns nicht. Diese Fehlentwicklung ist seit drei Jahrzehnten bekannt, aber die Stahlbeton-Kollegen bemühen sich nicht, neue Wege in Anlehnung an die Gewölbe- und Hängewerk-Analogie zu suchen. Eine der Merkwürdigkeiten: Bei Platten rechnen wir die Schnittkräfte nach der Elastizitätstheorie (mit FEM), die Querschnitte dimensionieren wir nach der Plastizitätstheorie.

Sicherheit ist nicht quantifizierbar
Nun stellte sich die Frage der Sicherheit. „Sicherheit“ ist ein politischer Begriff und nicht quantifizierbar. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schlug Gábor v. Kazinczy (1889 – 1964) vor, anstelle von „Sicherheit“ den Begriff „Versagenswahrscheinlichkeit“ zu verwenden. Diese ist eine statistische Größe und daher quantifizierbar.
Dabei stellen sich die Fragen: Wie kann man zuverlässige statistische Werte ermitteln und mit welcher Versagenswahrscheinlichkeit würde sich die Gesellschaft begnügen? Dies ist wiederum von den Folgen des Versagens und den Kosten – die die Gesellschaft bereit ist, für das Bauwerk aufzubringen– abhängig. Im Hochbau wäre man mit einer Versagenswahrscheinlichkeit von 10-6 zufrieden, für hohe Talsperren zum Beispiel, deren Versagen ganze Städte gefährdet, würde man geringere Werte verlangen. Diese können rechnerisch erreicht werden, jedoch bleiben Vorhersagen über die Bewegung des Bergs, besser gesagt seine Nichtbewegung, zwangsläufig vage.
Unabhängig von dieser Problematik wurden ein halbes Jahrhundert später aufgeschlüsselte Beiwerte für die Einwirkung und für den Widerstand vereinbart. Es wird deutlich, dass die Ermittlung der Beanspruchungen und deren Begrenzung nicht schlüssig hergeleitet sind, trotzdem achten wir bei der statischen Berechnung auf die Zahlen auch an der dritten Stelle hinter dem Komma ...

Die Wissenschaft ist der aktuelle Stand der Irrtümer ...
... und die Normen sind das Aufzwingen der Irrtümer der Vergangenheit.
Wichtigstes Merkmal der Wissenschaft ist der Zweifel. Der Zweifel zwingt uns zur Revision unseres Wissenschaftsverständnisses. Wir müssen sie durchführen, weil wir neue Software, andere Aufbereitungsmethoden haben. Da wir heute gewissermaßen alles rechnen können, ist es möglich, uns von den Zwängen der Lehre der Statik/Elastizitätstheorie zu befreien und baustoffgerechter zu konstruieren. Hierfür wäre es erforderlich, die Normen den heutigen Erkenntnissen und Anforderungen anzupassen. Das gilt für den Holzbau, aber besonders für den Stahlbetonbau.
Was lehren wir? Wir lehren bevorzugt die Vorschriften und nicht das Ingenieurdenken. Nachdem wir von den Bauingenieurstudenten anhand der Fächer Mathematik und Mechanik diejenigen ausgesiebt haben, „die sich für die Ingenieurtätigkeit nicht eignen“, lehren wir Tragsysteme. Wobei der Statiker seine Aufgabe darin sieht, die gelernten Systeme im Entwurf des Architekten unterzubringen, obwohl die Aufgabe nicht das Tragwerk, sondern die Abgrenzung des Raums bzw. die Plattform für den Verkehr ist. Wie müssen die Flächen ausgebildet sein bzw. was muss hinzugefügt werden, damit sie tragen?
Wie werden diese Aufgaben in der Praxis gelöst? Erforderlich ist immer die enge Kooperation zwischen Architekt und Ingenieur. Auf diese Tätigkeit müssen wir unsere Studenten vorbereiten. Das heißt, die Kooperation muss bereits an der Universität geübt werden.
Vor einem halben Jahrhundert hielt man das Fach Statik/Festigkeitslehre für Architekten für unerlässlich, und es diente auch da dem Aussieben. Die Umbenennung der Lehrstühle in „Tragwerkslehre” seit 1965 war kein Etikettenwechsel, sondern es wurden andere Inhalte gelehrt. Der Architekt muss die Statik kennen, aber das Können, das Rechnen, das kann er dem Ingenieur überlassen. Wichtig ist, dass der Architekt das Tragverhalten erkennt, es verfolgen kann und von den Dimensionen eine Vorstellung hat. (Der Ingenieur natürlich auch!).

Ein Blick auf die Konstruktionen der Vorstatikzeit
Wie oben erwähnt, haben die Ingenieure früher das geplant, was sie rechnen konnten. Nun, dank der Finiten-Elemente-Methode, können wir alles befriedigend rechnen. Wir müssen uns wohl überlegen, welche Rechenmethoden noch relevant sind. Wie entwerfen wir das Tragwerk, wie bereiten wir die Eingabe für die Software vor? – Das, was wir bisher „Vorstatik“ nannten. Statik kann (fast) jeder, aber die Vorstatik ist Kunst: Wie kann ich mit dem geringstem Aufwand den Kräfteverlauf, die Beanspruchungen und die Dimensionen einigermaßen zutreffend erfassen? Hierfür sind Verfahren zu entwickeln und zu vermitteln, den angehenden Architekten, aber insbesondere den Ingenieuren. Die Tragkonstruktion macht nicht nur die Architektur möglich, sie ist die Baukunst.
Ebenso wichtig ist im Übrigen die Gebäudetechnik– aber das ist ein anderes Feld. Nach den Kollisionen auf den Baustellen – wie Elbphilharmonie Hamburg, Flughafen Berlin, Oper Köln etc. – , die Spiegelbild der defizitären Einbindung von Gebäudetechnik sind, sollten die für das Bauen zuständigen Ministerien sowohl die künftige Ausbildung unserer Fachkräfte und somit auch die Rahmenprüfungsordnung in einigen Punkten überdenken. Die Lehre für den Tragwerksentwurf verfolgt das Ziel, eine brauchbare Statik/Tragwerkslehre für Architekten – und keine vereinfachte Bauingenieurstatik – zu vermitteln, einen erleichterten, zum Teil auf Intuition basierenden Einstieg in die interessante Welt der Tragwerke zu ermöglichen, den Dialog zwischen Architekten und Bauingenieuren zu fördern und so zur Entwicklung der Baukunst beizutragen.
Zum eingangs genannten Beitrag von Werner Lorenz, der sich fragt, warum dem Bauingenieur die Geschichte seines Berufs und deren wissenschaftliche Grundlagen so wenig nahegebracht werden, sei ergänzt: Es ist wichtig, dass wir nicht nur die Geschichte der Statik, sondern deren Einwirkungen auf die Bauarten analysieren. Genau dafür ist es unerlässlich, auch einen Blick auf die Konstruktionen der Vorstatikzeit zu werfen. Das erweitert unseren Horizont und verbessert unsere heutigen Bauwerke.

LITERATUR
Lorenz, W.: „Geschichte für Bauingenieure? Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Deutsches Ingenieurblatt Heft 12 (2017).
Kurrer, K.-E.: Geschichte der Baustatik. Auf der Suche nach dem Gleichgewicht. 2., stark erweiterte Auflage. Berlin: Ernst & Sohn 2015.
Polónyi, S.: Wie man Architektur zum Tragen bringt. Essen: Klartext 2016.

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