Zwangsurlaub für Mitarbeiter?

Bundesarbeitsgericht verpflichtet zu eindeutiger Aufforderung

Deutsches Ingenieurblatt 10/2019
FKT
Recht

Das Recht von Arbeitnehmern auf Gewährung von Erholungsurlaub wird – wie kein anderes Rechtsgebiet im deutschen Arbeitsrecht – von europarechtlichen Vorgaben geprägt. Die Richtlinie 2003/88/EG vom 4. November 2003 will „bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“ regeln und enthält in Artikel 7 die Festschreibung eines bezahlten Mindestjahresurlaubs von vier  ochen nach Maßgabe einzelstaatlicher Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten. Außer dem Hinweis, dass dieser bezahlte Mindestjahresurlaub nur bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses finanziell vergütet werden darf, enthält die Richtlinie keinerlei weitere Festlegungen. Angesichts des Alters der Richtlinie und des relativ überschaubaren Inhalts (jedenfalls zum Urlaubsrecht)  muss es immer wieder erstaunen, welche Überraschungen dieRechtsprechung bei der Auslegung dieser Richtlinie zu produzieren  in der Lage ist. Einen vollständigen Kurswechsel hat der für das Urlaubsrecht zuständige neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts mit seinem Urteil vom 19.02.2019   AZ 9 AZR 423/16 – zum Verfall von Urlaubsansprüchen wieder einmal vorgenommen.

Ein Arbeitnehmer war von 2009 bis zum  30.04.2015 beschäftigt. Das Beschäftigungsverhältnis endete aufgrund seiner Eigenkündigung. Im Februar 2015 hat er seinen (nicht genommenen) Jahresurlaub für 2012 und 2013 verlangt. Der Arbeitgeber hat dies mit der Begründung verweigert, der Urlaub sei mit Ablauf der jeweiligen Kalenderjahre ersatzlos verfallen. Der Arbeitnehmer klagte daraufhin die finanzielle Abgeltung der Urlaubsansprüche für 2012 und 2013 ein.  

Die Rechtslage
Das Bundesurlaubsgesetz regelt in § 7 Abs. 1 Satz 1, dass der Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden muss und nur auf das nächste Quartal des Folgejahres übertragen werden kann, wenn dringende betriebliche oder persönliche Gründe des Arbeitnehmers dies rechtfertigen. Zugleich regelt § 7 Abs. 1, dass bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen sind, soweit nicht dringende betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer entgegenstehen, die unter sozialen Gesichtspunkten den Vorrang verdienen. Eine finanzielle Abgeltung von Urlaub ist gemäß § 7 Abs. 4 des Bundesurlaubsgesetzes nur für denjenigen Resturlaub erlaubt, der nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr gewährt werden kann. Diese gesetzlichen Regelungen sind über Jahrzehnte so verstanden worden, dass Urlaubsansprüche automatisch verfallen, wenn sie im Urlaubsjahr bzw. im Übertragungszeitraum des ersten Quartals des Folgejahrs tatsächlich nicht realisiert worden sind. Dabei ist Arbeitnehmern ein Schadenersatzanspruch – in Form eines sog. „Ersatzurlaubs“ – zugesprochen worden, wenn die unterbliebene Gewährung von Urlaub vom Arbeitgeber verschuldet worden ist. Aus der Natur eines Schadenersatzanspruchs resultierte allerdings die Beweislast des Arbeitnehmers, die Verhinderung des Urlaubs durch den Arbeitgeber beweisen zu müssen.  

Da hierzu im konkreten Fall vom Arbeitnehmer nichts vorgetragen worden war, hatten die Vorinstanzen die Klage auf Abgeltung des Urlaubs mit der Begründung abgewiesen, der Urlaub aus den Jahren 2012 und 2013 sei am Ende der jeweiligen Kalenderjahre verfallen.  

Die aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts Das Bundesarbeitsgericht hatte zunächst – in einem anderen Verfahren – den Europäischen Gerichtshof zur Frage des Verfalls von Urlaubsansprüchen um Auslegungshilfe gebeten. Dieser hatte durch Urteil vom 06.11.2018  (C-684/16) entschieden, dass ein automatischer Verlust von Urlaubsansprüchen dann nicht eintreten könne, wenn der Arbeitnehmer gar keinen Urlaubsantrag gestellt habe. Dieser Auslegung folgt das Bundesarbeitsgericht nunmehr in der aktuellen Entscheidung insofern, dass ein nicht erfüllter Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nur dann am Ende eines Kalenderjahrs oder Übertragungszeitraums erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch geltend zu machen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Dabei formuliert das Bundesarbeitsgericht neu eine Initiativlast des Arbeitgebers zur Verwirklichung des Urlaubsanspruches. Der Arbeitgeber müsse konkret und in völliger Transparenz dafür sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage sei, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Der Arbeitgeber müsse den Arbeitnehmer „– erforderlichenfalls förmlich – dazu auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub verfällt, wenn er ihn nicht nimmt.“  

Zur Erfüllung dieser Mitwirkungsobliegenheit gibt das Bundesarbeitsgericht dem Arbeitgeber detailliert vor, einen konkreten Urlaubsanspruch eines bestimmten Jahrs darzulegen, z. B. durch eine Mitteilung zu Beginn eines Kalenderjahrs, wie viele Arbeitstage Urlaub dem Arbeitnehmer im Kalenderjahr zustehen, verbunden mit der Aufforderung, diesen Jahresurlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahrs genommen werden kann. Zusätzlich muss über die Konsequenz belehrt werden, dass der Urlaub grundsätzlich am Ende des Kalenderjahrs verfällt, wenn der Arbeitnehmer in der Lage gewesen wäre, seinen Urlaub im Kalenderjahr zunehmen, ihn aber nicht beantragt hat. Nur, wenn der Arbeitnehmer nach dieser Belehrung seinen bezahlten Jahresurlaub nicht in Anspruch nehme, geschehe dies aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen. Abstrakte Angaben im Arbeitsvertrag, in Merkblättern, in Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträgen hält das Bundesarbeitsgericht mangels konkreter und transparenter Unterrichtung nicht für ausreichend.

Ob im vorliegenden Fall die Voraussetzungen dieser (neuen) Mitwirkungsobliegenheiten vom Arbeitgeber erfüllt worden waren, wird das Landesarbeitsgericht nunmehr noch aufzuklären haben.

Fazit
Aufgrund der vorangegangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs blieb dem Bundesarbeitsgericht wohl keine Wahl, als seine langjährige Rechtsprechung abzuändern. Letztlich bedeutet die neue Rechtsprechung eine Beweislastumkehr zu Lasten des Arbeitgebers. Nach bisheriger Rechtsprechung musste ein Arbeitnehmer die Voraussetzungen für den Fortbestand seines Urlaubsanspruchs nach Ende des Urlaubsjahrs beweisen. Nunmehr obliegt dem Arbeitgeber die Beweislast für die Voraussetzungen, dass ein Urlaubsanspruch am Ende des Urlaubsjahrs verfallen ist. Der Arbeitgeber wird zum „Kindermädchen“ des Arbeitnehmers im Hinblick auf den Urlaub.  

Die Praxis wird zukünftig mit dieser sehr weitgehenden Interpretation von Arbeitnehmerschutzrechten leben müssen, wobei die Auswirkungen im Detail bislang noch gar nicht vollständig absehbar sind. Wesentlich ist, dass der Arbeitgeber jedem Arbeitnehmer individuell einen Hinweis zum Umfang seines Urlaubsanspruchs mit der ausdrücklichen Auffor-derung geben muss, diesen Urlaub innerhalb des Kalenderjahrs zu nehmen. Dabei muss ein klarer und verständlicher Hinweis erfolgen, dass der Urlaub anderenfalls am Ende des Kalenderjahres verfiele. In diesem Zusammenhang ist auch auf die mögliche Übertragung bis zum 31. März des Folgejahres hinzuweisen. Bei längerer Erkrankung oder Elternzeit muss zusätzlich daraufhin gewiesen werden, dass gerade kein Verfall am 31. März des Folgejahrs eintritt.

Da abstrakte Hinweise nicht genügen, wird diese Hinweispflicht insbesondere in größeren Unternehmen zu erheblichem bürokratischen Mehraufwand führen. Dabei sind Streitfragen vorprogrammiert. Entgegen weitläufiger Meinung dürfte die vom Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung selbst angesprochene Textform (z. B. per Mail) nicht ausreichen, wenn Arbeitnehmer bestreiten, eine derartige Mitteilung technisch erhalten zu haben. Der Unterzeichner empfiehlt jedenfalls, den Empfang dieses Hinweises gegenzeichnen zu lassen bzw. den Hinweis im Beisein von bzw. durch Zeugen zu übergeben, um das laufende Arbeitsverhältnis nicht (notfalls) durch Zustellung per Gerichtsvollzieher belasten zu müssen. Fraglich ist auch, ob der mindestens einmalige Hinweis zu Beginn eines Kalenderjahrs ausreichend ist. Der Unterzeichner empfiehlt, im Spätsommer oder Frühherbst (nach Beendigung der Sommerferien) auf noch bestehenden Resturlaub vorsorglich nochmals hinzuweisen. Damit dürfte allerdings das Risiko verbunden sein, dass es zu erheblichen Auseinandersetzungen kommt, weil Urlaub im Oktober und insbesondere im November vielen Arbeitnehmern wenig erstrebenswert erscheint. Bislang scheint die Rechtsprechung den Arbeitgeber jedenfalls noch nicht verpflichten zu wollen, Arbeitnehmer gegen Ende des Jahrs „Zwangsurlaub“, erteilen zu müssen, um den mit dem Urlaubsrecht beabsichtigten Gesundheitsschutz zu realisieren. In der Praxis ist Arbeitgebern die Einholung qualifizierter arbeitsrechtlicher Beratung dringend zu empfehlen. 

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