Vorzeigeprojekt für Flächenrecycling und grüne Wärmenetze

Neckarspinnerei Quartier

Deutsches Ingenieurblatt 04/2023
Wärmebehandlung
Bauen im Bestand
Sanierung
Denkmalschutz
Green Engineering: Umwelt, Energie, Mensch
Energie • Klima • Dämmung

Über 160 Jahre alt, denkmalgeschützt und außergewöhnlich: Mit dem Neckarspinnerei Quartier entsteht auf dem Areal einer ehemaligen Spinnerei in Wendlingen-Unterboihingen ein lebendiges Mischquartier mit einem hochmodernen Energiekonzept. Der weitestgehend denkmalgeschützte Gebäudebestand wird energetisch saniert und durch moderne Umbauten sowie Neubauten weiter verdichtet und aufgewertet. Ziel ist es, bis 2027 ein innovatives Stadtquartier mit Null-Emission zu realisieren.

Sie müssen runter: die Treibhausgasemissionen im Gebäudesektor – und zwar bis 2030 um 66 bis 67 Prozent im Vergleich zu 19901. Denn aktuell ist die Bau- und Immobilienbranche für mehr als ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Ein weiteres Manko, das zulasten der Umwelt geht: Die Baubranche verschlingt riesige Flächen. Pro Tag werden derzeit in Deutschland laut Umweltbundesamt rund 54 Hektar Neufläche für Siedlungs- und Verkehrsflächen erschlossen2. Die Bundesregierung hat deshalb das Ziel ausgegeben, den Flächenneuverbrauch bis 2030 auf unter 30 Hektar pro Tag zu senken3. Bis 2050 soll er durch eine Flächenkreislaufwirtschaft bei netto-null liegen. Gebaut werden muss selbstverständlich weiterhin, jedoch nicht auf der grünen Wiese. Eine Alternative mit enormem Potenzial bieten Brachflächen, sogenannte Brownfields. Ihr Vorteil: Sie befinden sich häufig in urbaner Lage und weisen Verkehrs-, Strom-, Wasser- sowie Dateninfrastruktur auf. Zudem handelt es sich dabei um bereits versiegelte Flächen.

Was den Energieverbrauch und die CO2-Emissionen angeht, so stellen energieeffiziente Wärmenetze einen wichtigen Baustein dar, um die Verbräuche zu senken, von fossilen Brennstoffen wegzukommen und Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Sie arbeiten mit niedrigeren Temperaturen als konventionelle Wärmenetze und erlauben die Integration regenerativer Energien. Wie ein vorbildliches Flächenrecycling und die Umsetzung von Wärmenetzen im Bestand gelingen können, soll das Projekt Neckarspinnerei Quartier im baden-württembergischen Wendlingen zeigen.

Tradition und Innovation unter einem Dach

Noch bis 2020 wurde am Spinnerei-Standort der Otto Textil GmbH in Wendlingen-Unterboihingen produziert. Nun will die Eigentümerin, die HOS-Gruppe, die Geschichte des im 19. Jahrhundert visionären Textilunternehmens fortschreiben. Denn schon beim Bau der Spinnerei im Jahr 1860 hat das Unternehmen auf die Verbindung von Wohnen und Arbeiten geachtet: Neben einer Gründervilla wurden auf dem Gelände auch Wohngebäude für die Belegschaft errichtet4. Um mit dem historischen Areal weiterhin einen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung der Metropolregion Stuttgart zu leisten, will die HOS-Gruppe auf dem Areal nun ein lebendiges, zukunftsgerichtetes und produktives Mischquartier mit Bereichen für Wohnen, Arbeiten Gastronomie, Kultur und Handel realisieren. Geplant ist zudem ein hochmodernes Energiekonzept, das mindestens einen klimaneutralen Betrieb ermöglicht.

Das knapp fünf Hektar große Gelände des Neckarspinnerei Quartiers umfasst das Bestandsareal und die Neubaufläche. Der weitestgehend denkmalgeschützte Gebäudebestand, der 1860 mit dem Spinnereihochbau seinen Anfang nahm, weist eine hohe bauliche Dichte und beinahe dörfliche Strukturen auf. Insgesamt verfügen die Bestandsgebäude über rund 20.000 Quadratmeter Geschossfläche. Durch die Erweiterung bestehender Gebäude, moderne Umbauten sowie Neubauten im nördlichen Areal des Quartiers soll das Gelände weiter verdichtet und aufgewertet werden. Mit der Neubaufläche wird die Neckarspinnerei um weitere 30.000 Quadratmeter Geschossfläche wachsen. Eine hohe Aufenthaltsqualität bietet auch das angrenzende Neckarufer entlang des gesamten Geländes. Daneben ist ein Mobilitätskonzept mit guter Anbindung des Quartiers an den öffentlichen Nahverkehr, das Radwege- und Fußgängernetz vorgesehen. Das Vorhaben wurde als offizielles Projekt für die Internationale Bau-Ausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA´27) ausgewählt.

Zukunftsweisendes Energiekonzept

Um das Ziel des klimaneutralen Betriebs zu erreichen, ist ein Wärmenetz der vierten Generation geplant, das als Blaupause für zukünftige Vorhaben dienen kann. Daher sollen im Neckarspinnerei Quartier mittels digitaler Technologien und IoT-Diensten die Energietechnik optimiert und Lösungen erprobt werden, wie der CO2-Footprint von Immobilien signifikant und dauerhaft durch Digitalisierung reduziert werden kann – auch im Bestand. Das Ganze wird innerhalb des Forschungsprojekts Booster, einem National-5G-Energy-Hub(N5GEH)-Satellitenprojekt, umgesetzt5. Das Ziel von Booster ist es dabei, die N5GEH-Plattform so weiterzuentwickeln und zu ergänzen, dass sie als IoT-Liegenschaftsplattform eingesetzt werden kann. Die IoT-Dienst-basierte Betriebsoptimierung wird dabei in Kooperation mit der HOS Projektentwicklung GmbH als assoziiertem Partner am Beispiel des Neckarspinnerei Quartiers demonstriert. Die Liegenschaft ist für das Forschungsprojekt deshalb besonders gut geeignet, da sie sowohl bestehende als auch bereits modernisierte und in Modernisierung befindliche Gebäude umfasst. Zudem handelt es sich um ein Mischquartier mit den Nutzungen Wohnen, Arbeiten, Gastronomie, Handel und Kultur. Die an diesem Beispiel weiterentwickelte Plattform ist somit für vielfältige Gebäudeensembles nutzbar und die Ergebnisse sind weit übertragbar.

Geleitet wird das Forschungsvorhaben von Drees & Sommer als Beratungs- und Planungsunternehmen und als direkter Entwickler sowie Anwender der neuen IoT-Plattform. Derzeit arbeitet das Expertenteam daran, die notwendigen IoT-Dienste für die Neckarspinnerei zu entwickeln. Ihre Implementierung in das Projekt und die Inbetriebnahme sollen voraussichtlich im März 2023 erfolgen. Ein weiterer Konsortialpartner ist die RWTH Aachen. Mit ihrem Lehrstuhl für Gebäude- und Raumklimatechnik übernimmt sie unter anderem die wissenschaftliche Begleitung des Vorhabens und stellt die Verbindung zum Großforschungsprojekt National 5G Energy Hub her.

Eine Machbarkeitsstudie mit Schwerpunkt Energie und Mobilität, die als Grundlage des in Kürze startenden städtebaulichen Wettbewerbs für die IBA’27 dient, liegt bereits vor. Im Fokus stehen Themen wie Klimaneutralität/Klimapositivität, Mobilität, Digitalisierung in Symbiose mit der Geschichte des Areals, dem historischen Gebäudebestand und den sozialen, gesellschaftlichen Mehrwerten. Neben der Machbarkeitsstudie läuft ein Förderantrag zur Wärmeversorgung und die Entwicklung der Energieversorgung rund um ein hocheffizientes Wärmenetz (4.0). Spannende Elemente dieses Energiesystems: Ein Laufwasserkraftwerk, das das Areal bereits seit der Spinnerei-Errichtung mit Energie versorgte, wird Teil des Konzepts sein. Als moderne Ergänzung, die ebenfalls das Medium Wasser nutzt, kann zudem voraussichtlich ein großer Eisspeicher eingebunden werden. Der städtebauliche Wettbewerb mit landschaftlichem Ideenteil für das Bestandsquartier und Neubauareal wird im März 2023 abgeschlossen und die Ergebnisse für die weitere Umsetzung sowie für die dann folgende Bauleitplanung bekannt gegeben.

Neue Heimat für kreative Köpfe und Start-ups

Um das temporär leerstehende Neckarspinnerei-Areal weiter nachhaltig zu nutzen, vermietet der Eigentümer einen Teil der Bestandsgebäude an junge Unternehmer und gemeinnützige Organisationen. So hat zum Beispiel der Stuttgarter Verein Adapter im vergangenen Sommer die Neckarspinnerei als Experimentierraum für neue Wohnformen genutzt. Ab diesem Frühjahr wird voraussichtlich auch das aus dem Max-Planck-Institut hervorgegangene Start-up Unternehmen „Batene“ im Neckarspinnerei Quartier beheimatet sein. Für seine Forschungen an der Entwicklung einer neuen Batterietechnologie nutzt das junge Unternehmen das denkmalgeschützte Batteurgebäude. Die langfristige Nutzung eines Teils des Spinnerei-Hochbaus, der als Herzstück der Neckarspinnerei gilt, ist ab 2025 durch die Stiftung „Leben inklusiv e.V.“ vorgesehen. Diese plant eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung, eine Inklusionskantine sowie weitere Inklusionsaktivitäten. Somit beleben bereits jetzt zukunftsgerichtete Unternehmen das traditionsreiche Spinnerei-Areal. Mit geplanten Neubauten und dem innovativen Nachhaltigkeits- und Energiekonzept wird das Neckarspinnerei Quartier zu einem lebendigen und attraktiven Ort zum Wohnen, Arbeiten und Entspannen.

Ähnliche Beiträge