Von Siegen lernen?

Viele Hochschulen der 70er-Jahre werden derzeit aufwendig saniert

Deutsches Ingenieurblatt 11/2019
Forschung und Technik

„Was ist schlimmer als Verlieren? Siegen!“ Diesen Scherz machte man über die süd-westfälische Stadt im Siegerland wohl nur bis 1990, als die Universität Siegen in einem Vergleich des Nachrichtenmagazins Der Spiegel den ersten Platz in einem bundesweiten Ranking belegte. Wie viele andere Hochschulen, die in den 70er-Jahren gegründet wurden, sind die Hochschulgebäude in Siegen nun um die 50 Jahre alt und stark renovierungsbedürftig. Wie aufwändig die Sanierungen des Erbes der Willy-Brandt-Ära sind, zeigt das Beispiel der Uni Siegen eindrücklich. Die Universität Siegen mit heute fast 20.000 Studenten ging ursprünglich aus einer Gesamthochschule hervor und bietet an fünf Fakultäten über 50 Studiengänge. Im Jahr 1972 wurde sie zusammen mit vier weiteren neuen Hochschulen in Nordrhein-Westfalen gegründet. Der Baubeginn des Neubaukomplexes in Siegen erfolgte noch im selben Jahr. Nach dem Willen der sozialdemokratisch geprägten Hochschulpolitik sollten Unis wie Siegen für „Demokratisierung, Chancengleichheit, Durchlässigkeit und Internationalität“ stehen. Dieser Reformanspruch wurde auch durch neue Studiengänge verwirklicht.

Seit 1980 heißt die Gesamthochschule Siegen auch „Universität“ und 2003 wurden die „Gesamthochschulen“ ganz aufgegeben und zu Universitäten. Weil die Siegener Universität zeitgleich mit vielen anderen Universitäten in NRW geplant wurde, ähneln sich die Baustile, es wurden sogar die gleichen Gebäude-Module bei den Universitäten Duisburg-Essen, Paderborn und Wuppertal verwendet. Sanierungsansätze sind heute also ebenso übertragbar wie einst die Module.
Der Großteil der Uni-Gebäude in Siegen liegt im Stadtteil Weidenau auf dem Haardter Berg. Hörsäle, Mensa, Studienberatung, Uni-Bibliothek und -verwaltung bilden dort den „Campus Adolf-Reichwein-Straße“.

Das Erscheinungsbild verändert sich

Das Land NRW investiert über seinen „Bau- und Liegenschaftsbetrieb (BLB)“ viele Millionen Euro, um die Hochschul-Bauten landesweit in einen zeitgemäßen Zustand zu versetzen. In Siegen werden seit 2017 zunächst Mensa, Universitätsbibliothek und die Gebäude „H“ und „K“ umgebaut. Die Gebäude aus den 70er-Jahren zu erneuern und damit moderne Arbeitsbedingungen zu schaffen, ist eine Herkules-Aufgabe. In Siegen bekommt der Bau-Komplex nicht nur eine neue Fassade– der blaue Anstrich und die Balkone, die die Fassaden bis dato prägten, gehören dann der Vergangenheit an. Die Balkone werden abgeschnitten und die Fassaden in Zukunft mit Blech-Paneelen verkleidet.

Die Fassaden bekommen eine Unterkonstruktion, die die Elemente der neuen Blechfassade trägt. Damit wird sich das Erscheinungsbild der Bürotürme ändern: Weiße Fassade mit anthrazit-farben abgesetzten Bändern und neuen Fenstern. Der Campus soll farblich weiß-grauschwarz gestaltet werden. Der Neubau des Allgemeinen Verfügungszentrums AVZ in gedecktem Weiß gibt den Farbton für die Renovierung vor. Auch die Idee der schwarzen Fensterbänder, das zukünftige gestalterische Leitmotiv des Campus, taucht hier erstmals auf.
Tiefgreifender sind die Veränderungen in den Interieurs und der Haustechnik: Das Mensa-Foyer beispielsweise bekommt neue Funktionen und wird hell gestaltet. Anstelle einer Sparkassen-Filiale wird eine Lounge mit Sitzgelegenheiten eingerichtet, im Foyer sind Info-Points geplant. Ein neues Beleuchtungskonzept soll die Orientierung erleichtern. In der Eingangshalle werden sich Geldautomaten, die AOK und das Familien- und Kinderzimmer befinden.

In der Mensa wird es einen größeren Ausgabebereich geben. Ein bestehendes Restaurant wird geschlossen und seine Fläche in die Mensa integriert. Die Mensa-Zwischendecke war völlig marode und musste aufwändig erneuert werden.
In der Hauptbibliothek werden Fenster, Wände und Fußböden erneuert. Auch hier sollen neues Mobiliar und ein Farbkonzept die Aufenthaltsqualität entscheidend erhöhen. Die Planungen sehen variable Lern- und Arbeitsbereiche mit Einzel- und Gruppenarbeitsplätzen vor, ausgestattet mit WLAN und Ladestationen für Mobilgeräte. Die Raumaufteilung der Büro- und Seminarräume „H“ und „K“ wird im Zuge der Sanierung grundlegender verändert. Die Büros werden verkleinert und zwei Flure mit einer Mittelzone geschaffen. In diesen Bereichen werden „Service-Ecken“ eingerichtet mit Besprechungsboxen, Teeküchen oder Aufenthaltsräumen, Zonen für Drucker, Kopierer und Scanner. Die Dozentenbüros sind zukünftig weniger tief, dafür gibt es in der Mitte mehr Platz für Kaffeeküchen und Besprechungszimmer in einer Mittelzone. Während die Büros verkleinert werden, werden die Flure größer. Alle Zwischenwände, Einbauten, Teppichböden, Heizkörper, Lüftungskanäle und die Elektroinstallation werden ausgebaut. Insgesamt 5.400 Tonnen Bauschutt müssen abtransportiert werden.

Sanierung trägt zum Großteil das Land

Der Umbau in Siegen ist Teil des „Hochschulbau-Konsolidierungsprogramms“ (HKoP) des Landes NRW. Für die ersten Umbauten in Siegen steht ein Budget von 113,7 Millionen Euro zur Verfügung; den Großteil der Kosten trägt das Land, nur elf Prozent steuert die Universität bei. Der Sanierungsbereich umfasst zunächst nur ein Drittel der Flächen auf dem Adolf-Reichwein-Campus, es ließen sich also problemlos noch mehrere weitere Hunderte von Millionen Euro allein in die Sanierung eines Teil-Campuses einer Hochschule investieren.
Die Sanierung ist nicht nur ein finanzieller Kraftakt, sie erfordert auch organisatorisches Geschick: Der BLB als Eigentümer der Gebäude muss die 34.000 Quadratmeter Brutto-Grundfläche bei laufendem Betrieb sanieren. Dass beim Umbau Asbest gefunden wurde, hat die Planer zwar nicht überrascht, aber die Menge an Schadstoffen war etwa dreimal so groß, wie angenommen.
Die Räume wurden bis auf ihr Betonskelett entkernt. Eine speziell entwickelte Betonsäge wurde per Kran an die Fassaden bugsiert, um die Betonkonsolen abzutrennen. Die freiliegende Stahlbewehrung bekam einen Schutzanstrich, damit sie nicht rostet. Die Fenster wurden ausgetauscht, der Estrich abgeschliffen. Große Teile der Haustechnik – Lüftung, Sanitär, Wasser, Sprinkleranlage, Elektro, Heizung – werden in Zukunft zentral organisiert.

Höhere Bildung für alle

Der aufwändige Umbau der Uni Siegen steht exemplarisch für die Sanierung der „Retorten-Unis“ der 70er-Jahre. Sie haben bei dem damaligen politischen Ziel mitgeholfen, höhere Bildung auch für viele Nicht-Akademiker-Kinder zugänglich zu machen. Baulich zeigen sich nach etwa 50 Jahren allerdings Schwächen nicht nur im Detail, sondern auch in der grundsätzlichen Konzeption: Die auf damals modischen 45-Grad-Winkeln aufbauende Geometrie der eilig errichteten Typenbauten ignorierte die Tatsache, dass die Systembauten mitunter auf Grundstücken mit sehr bewegtem Terrain gebaut werden mussten. Die Topographie des Uni-Campus am Haardter Berg in Siegen ist dafür ein Beispiel. Wenn die Sanierung hier gut gelingt, verfügen Bauherren und Planer jedoch über einen Erfahrungsschatz, der sich auf andere Hochschulstandorte in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus anwenden lässt. Heute treten geburtenschwächere Jahrgänge in die Hochschulen ein, der Moment für einen – oft einer komplexen Rochade gleichenden – Umbau ist also günstig.

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