Digitaler Workflow am Jahrhundertprojekt

Mit Stuttgart 21 wird Ingenieurbaugeschichte geschrieben

bauplaner 04/2020
Black Box Deutschland GmbH
Hard- und Software

Es ist das größte deutsche Ausbauprojekt im Schienenverkehr seit dem 19. Jahrhundert: Im Rahmen des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm entstehen vier neue Bahnhöfe, 120 Kilometer neue Schienenwege, über 10.000 neue Arbeitsplätze sowie zwei komplett neue Quartiere. Doch ist es nicht die Größe allein, mit der dieses Jahrhundertprojekt beeindruckt. Obendrein wird hier derzeit Ingenieurbaugeschichte geschrieben – und zwar sowohl konstruktiv als auch technologisch. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der von ingenhoven architects entworfenen Bahnhofshalle des neuen Tiefbahnhofs in Stuttgart. Ein architektonisch höchst anspruchsvolles Schalendach, getragen von 28 geometrisch hochkomplexen Kelchstützen, qualifiziert diese als ein Meisterwerk moderner Baukunst, wie es die Welt bislang noch nicht gesehen hat. Ohne den Einsatz leistungsstarker Planungssoftware und eigens für das Projekt entwickelter Produktionsverfahren wäre die Umsetzung des Bauwerks schier ein Ding der Unmöglichkeit. Das Ingenieurbüro Werner Sobek AG, das für die Tragwerks-, Rohbau- und Bewehrungsplanung der Bahnhofshalle verantwortlich zeichnete, setzte daher bei der Planung größtenteils auf 3D. Auf Grundlage dieser 3D-Planung schöpft nun die Firma Ed. Züblin AG dank Allplan Bimplus die Vorteile von BIM bei der Durchführung voll aus. Ein Musterbeispiel für einen digitalen Workflow am Bau.

Fordernde Form

Etwa 420 Meter lang und 80 Meter breit soll die Bahnhofshalle für den neuen Tiefbahnhof in Stuttgart werden. Das dazugehörige Schalendach– ein hochkomplexes Gebilde aus antiklastisch gekrümmten Flächen – kann mathematisch als Freiform bezeichnet werden, da es keine mathematischen Regelmäßigkeiten gibt, die es beschreiben. Bei aller scheinbaren Freiheit ist diese Form jedoch keineswegs willkürlich, sondern folgt vielmehr auf hocheffiziente Weise dem Verlauf der Kräfte und setzt die Anforderungen an eine weitspannende und lichtdurchflutete Bahnhofshalle materialoptimiert um. Getragen wird sie von 28 Kelchstützen (Titelseite sowie Abb. 1 u. 2), die sich in 23 Regelstützen mit randverstärkendem Überzug (Hutze) an der Oberseite, vier Flachkelchen ohne Randverstärkung sowie einen größeren Sonderkelch, der sich als Zugangsbereich zur Innenstadt hin öffnet, unterteilen lassen.
Aufgrund seiner enormen geometrischen Komplexität musste das Schalendach komplett in 3D geplant werden. Hierzu generierten ingenhoven architects – als Planungsgrundlage für die Werner Sobek AG – für die Rohbauplanung ein 3D-Modell in Rhinoceros, das neben der Geometrie auch alle weiteren Rohbauinformationen wie Schalhautfugen und Koordinaten von Einbauteilen enthielt. Daneben wurde das 3D-Modell sowohl für die Entwicklung der Schalkonstruktion durch ZÜBLIN als auch als Grundlage für die Bewehrungsplanung bemüht. Letztere erwies sich aufgrund dreier Randbedingungen als sehr komplex: Erstens führte die Geometrie mit ständig variierenden Bauteildicken, synklastisch und antiklastisch gekrümmten Bereichen sowie einer Kombination aus kreisförmigen und orthogonalen Bewehrungssystemen zu komplexen Übergangs- und Übergreifungsbereichen mit mehrfachen Kröpfungen und Krümmungen. Zweitens erforderten hohe Anforderungen an die sichtbare Oberfläche geringe Abweichungen in der Betondeckung und äußerst präzise Biegeformen. Drittens war die Genauigkeit bei der Herstellung der komplexen Biegeformen der Bewehrungseisen fertigungstechnisch begrenzt.

12.000 Bewehrungspläne für ein Dach

Aufgrund dieser Randbedingungen erzeugten die Ingenieure von Werner Sobek für die Bewehrung der Freiformgeometrie anhand des 3D-Modells neben der Oberfläche sogenannte Spuren (Bewehrungsachsen) mit Rhinoceros in Kombination mit Grasshopper und C#. Da diese Spuren aus Splines bestanden und somit nicht wirtschaftlich herstellbar gewesen wären, musste die Geometrie in einem ersten Schritt vereinfacht werden. Dies ließ sich mittels eigens entwickelter Skripte lösen, über die eine parametrisierte Vereinfachung und Gruppierung von Stabformen erfolgte. Auf diese Weise wurden mit der Ed. Züblin AG abgestimmte Biegeformen als Bogenzüge mit bis zu drei Bögen und Polygonen erreicht.
Einen Großteil der Bewehrung – im Wesentlichen jene Eisen, die keine Freiformgeometrie besitzen – erzeugten die Ingenieure in Allplan Engineering. Die zuvor erwähnten finalen Spuren wurden schließlich ebenfalls nach Allplan überführt und mit der dort bereits generierten Bewehrung zu einem Gesamtbewehrungsmodell inklusive aller Stabeigenschaften, bewehrungsrelevanter Einlegeteile sowie Betonier- und Rüttelwendeln verarbeitet. Anhand dieses 3D-Bewehrungsmodells wurde erst eine Kollisionskontrolle durchgeführt und anschließend die Bewehrungspläne erzeugt. Einige wenige Zahlen offenbaren die enorme Komplexität: 350 DIN-A0-Pläne umfasst die Bewehrungsplanung eines typischen Innenkelches mit einer Bewehrungsmasse von etwa 300 Tonnen. Dabei treten pro Kelch circa 1.500 verschiedene Positionen auf. Ein typischer Randkelch, mit rund 350 Tonnen Bewehrungsstahl, kommt auf 400 Pläne. Das Schalendach insgesamt wird auf 12.000 Bewehrungsplänen dargestellt.

Optimierte Ausführung dank Allplan Bimplus

Die Bewehrungseisen werden in einer eigens für das Projekt eingerichteten Biegerei überwiegend per Schnittstelle zwischen Biegemaschine und Bewehrungsmodell gebogen und durch maßstäbliche Laserprojektion kontrolliert. 11.000 unterschiedliche, teils dreidimensional gekrümmte Stabformen, darunter viele Unikate, müssen auf der Baustelle pro Kelch gelegt werden. Um die exakte Positionierung zu gewährleisten, erhält jedes Bauteil des Schalendachs ergänzend zu den Bewehrungsplänen eine Koordinatenliste mit Gauß-Krüger-Koordinaten. Mithilfe eines Vermessers können die Leitstäbe exakt eingemessen und weitere Eisen dazwischen platziert werden. Für die korrekte Zuordnung der Stäbe sind in den Bewehrungsplänen Stabanfang und -ende definiert, die der Biegebetrieb wiederum mittels einer farblichen Markierung zusätzlich zur Positionsnummer am Stab übernimmt. Doch die 3D-Bewehrungsplanung verbessert die Ausführung noch durch eine weitere Hilfestellung: Mithilfe von Allplan Bimplus wird das 3D-Modell unmittelbar vor Ort unterstützend eingesetzt und der Einbau der Eisen koordiniert. ZÜBLIN verwendet dabei sowohl einen Großbildschirm im Container als auch eine mobile Lösung für den direkten Zugriff an der Einbaustelle. Die hochanspruchsvolle Herstellung der Bewehrung wird somit weitaus übersichtlicher und ungemein erleichtert, was den enormen Nutzen eines digitalen Workflows in diesem Meisterwerk der Ingenieurbaukunst– von der Planung bis zur Ausführung – verdeutlicht.

www.allplan.com

www.wernersobek.de

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